Flüchtlingsexperten in Trainingshosen
Von Andrey Ditzel
Eines Tages im Spätsommer sortierte ich die Inhalte meines Kleiderschrankes, besuchte meinen Dachboden und packte zwei blaue IKEA-Taschen mit alten und neuen Klamotten. Anschließend brachte ich meine Ladung zu den Hamburger Messehallen, die vor kurzem zur Anlaufstelle für Flüchtlinge wurden. Mehrere Freunde von mir sammelten bereits dafür Spenden, einige engagierten sich als Helfer am Ort.
Die Atmosphäre der Hilfsbereitschaft beeindruckte mich so sehr, dass ich auf Facebook ein Paar Fotos mit einem Kurzkommentar postete. Da ich so etwas wie ein russischsprachiger Schriftsteller bin, schreibe ich in den sozialen Medien für Freunde und Kollegen überwiegend in meiner Muttersprache. Selbstverständlich war mir inzwischen bewusst, dass für manche Landsleute die aktuelle Flüchtlingssituation in Europa zu einem neuen Anlass wurde, über den Untergang des Abendlandes zu plaudern. Womit ich allerdings nicht rechnete, dass mein Zweizeiler einen riesigen Shitstorm auslösen konnte. Vor allem staunte ich über die Stimmen aus der russischen Diaspora in Deutschland.
Ehemalige Landsleute, die zu einem wesentlichen Teil noch vor kurzem selber Kontingentflüchtlinge waren, sahen sich plötzlich als Garanten guter europäischer Werte gegen Islamisierung und Überfremdung. Interessanterweise fielen manche Meinungen und Kommentare wortwörtlich damit zusammen, was die russischen Regierungsmedien in den letzten Tagen rund um das Thema Flüchtlinge berichteten. So behauptete am 2. September die regierungsnahe Zeitung Komsomolskaja Prawda, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland bereits 30% erreicht habe (!) und der Flüchtlingsstrom nicht zuletzt von deutschen Homosexuellen gesteuert werde, die gerne dunkelhäutige Partner hätten. Der deutsche Sozialstaat stünde am Ende und Andersdenkende (Stichwort Pegida) würden verfolgt!
Es ist wirklich unfassbar, aber die neuen Beschützer der deutschen Leitkultur aus Russland und Kasachstan werden mit manchen Fakten und Informationen zu ihrer neuen Umgebung über mehrere Jahre von russischsprachigen Medien beliefert. Der russische Nationalismus erlebt momentan seine Blütezeit, was sich in der Ideologie der russischen Welt, die zumindest den ehemaligen Sowjetraum dominieren oder zurückerobern soll, widerspiegelt. Entsprechend sind nationalistische Gefühle und Fremdenfeindlichkeit unter vielen postsowjetischen Auswanderern am Aufblühen. Sie halten sich nicht selten zugleich für bessere Russen und bessere Deutsche.
Dabei kennt man dieses Publikum bei uns in Hamburg nicht zuletzt aus der S21 in Richtung Bergedorf-Aumühle, wenn ich nun selber ein paar Klischees bedienen darf: Frauen mit auffälligem Make-up, Männer in Trainingshosen. Genauso ernst wie die meisten russischen »Flüchtlingsexperten« über die Schrecken der islamischen Ghettos berichten, könnte ich vielleicht auch über die Schrecken der schleichenden Russifizierung am Hamburger Stadtrand berichten. Seit Jahren gibt es dort keine Läden mehr ohne Videoüberwachung.
Meine Absicht ist allerdings nicht, Angst gegen russischstämmige Migranten zu schüren. Die Waffe Angst gegen andere bildet nur einen Teufelskreis. Es bleibt nichts anderes übrig, als aufzuklären. So meldete sich bei mir auf den Spuren der Facebook-Diskussion die russische Redaktion des Radios Free Europe. Die Gesprächsrunde, geführt vom Redakteur Dmitry Volchek, in der wir die wichtigsten Statistiken zur Flüchtlingssituation zusammenfassten und unter anderem am Beispiel Hamburg erzählten, wie behördenunabhängig geholfen wird, wurde in sozialen Netzwerken über 7000 mal geteilt. Die Hamburger Facebook-Seite Refugeeswelcome– Karoviertel kam übrigens inzwischen auf eine Beitragsreichweite von 350 000.
Wenn ich an meine Landsleute in Europa denke, bekomme ich ziemlich gemischte Gefühle. Ein charakteristisches Zitat: »Schäm dich, du bist ja Russe und hast auf dem Christopher-Street-Day nichts zu suchen« … Andererseits finde ich in praktisch allen Bereichen und Branchen Russischsprachler, die bestens gebildet und bestens integriert sind. Selbst auf Atemlos durch die Nacht von Helene Fischer bin ich ein wenig stolz, obwohl ich nichts anfangen kann mit diesem Genre.