Anderes Wissen

InZeitung 32 vom 20. November 2020: Editorial

Ich hatte in den Corona-Tagen eher den Eindruck in Venedig oder Turku als in Freiburg zu leben – wegen des intensiven und fast ausschließlichen Kontakts zu Freunden und Verwandten in Italien und Finnland. Es war ein befremdliches und zugleich entfremdendes Erlebnis, es sprengte die alltäglichen Dimensionen des Raumes und der Zeit, des Hier und Jetzt, in denen wir leben. Ich habe erfahrenBeim Spaziergang am Bach zeigte eine georgische Freundin auf einen Strauch mit länglichen roten Beeren: »Man kann daraus eine super Marmelade kochen!« Wir beide wussten nicht, wie diese Beeren auf Deutsch heißen und den georgischen Namen vergaß ich sofort. Als ich tags darauf die Beeren sammelte, fragte mich eine Dame, die ihren Hund ausführte, was ich da machte. Ich erzählte es ihr. »Oh,« sagte sie, »das sind doch Kornelkirschen – eine Vitaminbombe, danke für den Tipp!«, und fing auch an die Beeren zu sammeln. , dass das Maß der empfohlenen Distanzierung unterschiedlich festgelegt wurde: von 1,0 Meter in Italien bis zu 2,0 Meter in Finnland. Vermutlich haben dabei die unterschiedlichen sozialen Gewohnheiten und das Verständnis von Distanz in den Ländern eine Rolle gespielt.

Menschen mit Migrationsgeschichte oder mit interessantem Hintergrund, wie es neulich ein »Zeit«-Redakteur benannte, bringen Koch- und Schönheits-Rezepte, Erziehungsmethoden und Durchsetzungstechniken mit. Anderes Wissen ist kein Buch- oder facebook-Wissen und wird anders erworben: Das kann ein freiwilliges soziales Jahr sein (S.7), eine persönliche Begegnung mit Rassismus (S.9) und sogar die Erfahrung, eine Maske zum Schutz anderer Menschen zu tragen (S.10). 

»Niemals vertrauen!« gibt seinen deutschen Schülern ein Capoeira Lehrer mit (S.7). Man stolpert über diesen Satz. In Deutschland muss man bekanntlich auf seine Taschen weniger aufpassen. Aber beim Kleingedruckten? 

Auch politisch sollte man wachsam und bewusst bleiben. Menschen, die z. B. Russland und Weißrussland aus politischen Gründen verlassen haben, wissen ganz genau, was Zensur der Medien wirklich bedeutet und wohin Verschwörungserzählungen führen können. Auch deshalb ist Wissen nützlich, das Eingewanderte nach Deutschland bringen und bewusst oder unbewusst übertragen. Alles, was uns zusätzlich zur offiziellen Wissenschaft weiser macht.

In dieser Nummer lesen Sie auch Beiträge zu einer Ausstellung im Roma Büro (S.13) und zu der Wahl des Migrant*innen-Beirates.

Schöne kommende Feiertage, an denen Sie je nach ihrem Wissen ein Weihnachtsmann, ein Christkind oder Befana besuchen kommt. Bleiben sie gesund!

Viktoria Balon